Jonathan Sternkopf aus Rittersgrün

Erinnerung an Jonathan Sternkopf


Der Verfasser war noch Kind, als sich um 1975 in der alten Sternkopf-Schneidmühle in Pöhla, OT Siegelhof ein einprägsamer Moment ereignete:

Irgendwer aus der Familie hatte gegenüber meiner Großmutter Ruth Specht, geb. Sternkopf aus einem mir nicht mehr erinnerlichen Zusammenhang heraus, das 3. Reich positiv erwähnt.

Meine Großmutter reagierte ausgesprochen emotional, so daß sich dieser Moment fest in mein Gedächtnis eingeprägt hat: „Der Hitler, dieser Verbrecher, Du weißt wohl nicht mehr, wie damals 1942 die Rittersgrüner Sternkopf-Familie in einem Elendszug aus dem Dorf getrieben wurde!“ 


Verstanden hatte ich diesen Gefühlsausbruch damals nicht, und in späteren Jahren habe ich es versäumt, meine Großmutter danach zu fragen. Erst in 2016 begann ich mit einer professionellen Ahnenforschung auf Basis von Kirchenbüchern und stieß dabei auf die Spuren von Jonathan Simon Sternkopf, geb. am 22.09.1881, einem weit entfernten Verwandten, der deutliche Spuren in der Geschichte hinterlassen hat.


Wer war dieser charaktervolle, anständige Mann, in dessen Worten von einst ich mich heute so oft wieder zu erkennen glaube? 


Jonathan Simon Sternkopf, geb. am 22.09.1881 war Mitbesitzer der Sternkopf-Schneidmühle in Rittersgrün, einer OHG, gemeinsam mit seinem Bruder Georg Sternkopf.

Jonathan war gleichzeitig Unternehmer, Erfinder, Ortschronist und naturwissenschaftlich sehr versiert.

Im Laufe seines Lebens meldet er eine Reihe von Patenten an.

Er studierte nach 1900 Versicherungsmathematik in Dresden und Versicherungswesen in Frankfurt am Main (Diplom als Versicherungsverständiger mit Auszeichnung). 

Jonathan war politisch schon frühzeitig aktiv und bezeichnete sich selbst als „rechts und konservativ“.

1907 - 1916 Mitglied im konservativen Verein und Konservativer Partei im Königreich Sachsen

um 1910 wurde Jonathan Mitglied im „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“

Im 1. Weltkrieg kämpfte er im kaiserlichen Heer auf dem Balkan und übernimmt anschließend das väterlichen Sägewerk.

1920 zur Zeit des Kapp-Putsches von marodierenden Roten angegriffen (Sternkopf-Brüder sollten in Schwarzenberg erschossen werden.)

1922 Mitglied Arbeitgebervereinigung

1926 Zugehörigkeit zur Stahlhelm-Ortsgruppe Rittersgrün

ab 1919 - 1933 Mitglied in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP)

ab 1933 beginnende Opposition gegen NSDAP weil er an der Neutralität und Fairness der zuletzt stattgefundenen Wahlen zweifelte.

um 1935 entdeckt er auf seinen Grundstücken mehrere 1000 to Eisenschlacke aus früheren Jahrhunderten und sucht nach Verwertungsmöglichkeiten.

1937/1938 erstes Verfahren wegen Vergehen gegen das „Heimtückegesetz“ 

Begründung: Verweigerung des „deutschen Grußes“ und die aufrechterhaltene Freundschaft zu einem jüdischen Kaufmann

11.01.1939 sondergerichtliche Verurteilung zu 10 Monaten Gefängnis wegen Verurteilung des Einmarsches in Österreich, basierend auf Denunziation. Die Urteilsbegründung erscheint aus heutiger Sicht völlig nichtig, aber er wurde als Gefahr für den Nationalsozialismus identifiziert und diszipliniert. Er äußerte im Brief an einen jüdischen Kaufmann in Frankfurt am Main: „Kurt Schuschnigg (damals Bundeskanzler von Österreich und Gegner des Anschlusses an das Deutsche Reich) ist ein Ehrenmann.“ 


Dazu ein kurzer Blick in des „Heimtückegesetz“ vom 20.12.1934, § 2: (1) Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP., über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft. (2) Den öffentlichen Äußerungen stehen nichtöffentliche böswillige Äußerungen gleich, wenn der Täter damit rechnet oder damit rechnen muß, daß die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde. (3) Die Tat wird nur auf Anordnung des Reichsministers der Justiz verfolgt; richtet sich die Tat gegen eine leitende Persönlichkeit der NSDAP., so trifft der Reichsminister der Justiz die Anordnung im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers. (4) Der Reichsminister der Justiz bestimmt im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers den Kreis der leitenden Persönlichkeiten im Sinne des Absatzes 1.


Im Sächsischen Staatsarchiv, 30049 Amtshauptmannschaft Schwarzenberg gibt es bereits seit 1933 Anzeigen und Ermittlungen bei der Sicherheitspolizei u.a. gegen den Fabrikbesitzer Jonathan Sternkopf wegen „feindlicher Einstellung gegenüber der Regierung“

In Folge: Aberkennung des Rechts zur Betriebsführung.- Fall Jonathan Sternkopf, Rittersgrün (Erzgebirge), 1942. Provenienz: Reichsjustizministerium (RJM), 1877-1945.


bis 1942 4 x verhaftet und in 8 verschiedenen Gefängnissen, darunter Plauen und Freiberg

1942 von Gestapo verhaftet, unter der Auflage freigelassen, seine Heimat nicht mehr zu betreten, verliert alle Geschäftsanteile am Unternehmen

1942 Umzug nach Lichtenstein (Elendszug durch Pöhla aus Erzählung meiner Großmutter)

1946 zunächst Denunziation durch die Kommunisten, dann aber Entlastung durch SMAD.

1946 Versöhnung mit Bruder Georg

1946 Jonathan übernimmt wieder die Betriebsleitung

1946 Jonathan wird auf kuriose Weise durch die eigene Belegschaft abgesetzt und praktisch enteignet.

5. März 1949 wird die erneute Enteignung durch die Staatsregierung in Dresden unwiderruflich bestätigt (volkseigener Betrieb). 

„Sägewerk Sternkopf“ kommt zu VEB Holzindustrie Marienberg


Hier schließt sich der Kreis um den eingangs von meiner Großmutter erwähnten Elendszug durch das Dorf. Tatsächlich wurde Jonathan mit seiner unmittelbaren Familie 1942 aus der angestammten Heimat vertrieben und enteignet. Nach Kriegsende quasi von der russischen Besatzungsmacht rehabilitiert und als Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt, wurde er dann in der jungen DDR erneut und endgültig enteignet. Es zeigt sich die Tragik im Leben von Jonathan, daß er als freier Geist ganz unabhängig von der Couleur des politischen Regimes immer wieder geächtet und enteignet wird. 


Daß Jonathan sein Leben lang eine rechte, nationalkonservative und ehrenhafte Grundhaltung standhaft vertreten hat, brachte ihn ab 1933 in Konflikt mit den neuen nationalsozialistischen Machthabern. Er war in schwerster Zeit, trotz vielfacher Disziplinierungsversuche durch den Staat und Denunziantentum im eigenen Umfeld eben kein Mitläufer und Untertan. 

Als Unternehmer und Erfinder mit einer vorzüglichen bürgerlichen Bildung hat er frühzeitig erkannt, daß alle sozialistischen Gesellschaftsmodelle in die Unfreiheit führen.


Jonathan soll hier mit einigen Textauszügen zu Wort kommen:


13. November 1933:

„Vor dem Krieg gehörte ich als einziger Rittersgrüner zum Reichsverband gegen Sozial-Demokratie, der kräftig arbeitete gegen Klassenhass und Kollektivismus.

Sofort nach dem 1918er Umsturz übernahm ich die Förderung der deutschnationalen Interessen im hiesigen Ort und war Einberufener und Leiter der ersten deutschnationalen Versammlung in Rittersgrün im Winter 1918/19.

Damals gehörte mehr Mut dazu, eine deutschnationale Versammlung zu leiten, als in den letzten Jahren eine Kundgebung, bei der von vornherein die Debatte ausgeschlossen wurde.“ 


„1920, am Kapptag, hielt ich mit meinem Bruder einigen 100 bewaffneten Leuten gegenüber an meiner Überzeugung fest, und wurde, weil ich dem Kommando der Masse nicht folgte, aus meiner Wohnung herunter zu laufen, auf dem Stuhl herunter getragen.

In Schwarzenberg, wo wir erschossen werden sollten, winselten wir nicht, und es schützte uns auch keinerlei Wehrverband etc., ebensowenig, als 1922/23 die aufgeheizte Masse zur Vieh-Beschlagnahme und zum Lohn-Terror übergehen wollte…. und bei der Hoch-Konjunktur der roten Flut haben wir in Rittersgrün durch Volksabstimmung Rechtsmehrheit im Gemeinde-Parlament erfochten. Sternkopf’s hatten daran keinen geringen Anteil.“ 


Besonders interessant ist sein Bericht zur Wahl und Volksabstimmung vom 12. November 1933.

Er erkennt die zunehmende Gleichschaltung der Institutionen, die Propaganda, die Ausgrenzung von Teilen der Gesellschaft, den öffentlichen Gesinnungsdruck und, daß sich plötzliche Veränderungen des gesellschaftlichen Miteinanders völlig falsch anfühlen.


11. November 1933

„Sonnabend Abend marschiert SA, SS, SAR, ST, Deutsche Turner, Schützen und im ganzen 3 Musik-Kapellen, zur Wahl mit Fackeln durch’s Dorf.“

12. November 1933

„Kirchenglockengeläute mit allen Glocken. Erfragter Grund: Wahl- und Volksabstimmung

Im Wahllokal (in diesem Fall Gasthaus Arnoldshammer in Rittersgrün); eine Wahlzelle, die anders aufgebaut ist, als bei den früheren Wahlen, und so, daß die Wähler das Gefühl haben, daß es der anwesenden Anzahl von Braun-Hemden nicht ganz unmöglich ist, hinter die Kulissen zu sehen.

Dem Wähler fällt dabei zunächst ein Plakat an der ihm entgegen ins Gesicht stehenden Wand an der Wahlzelle auf: „So müssen die Stimmzettel ausgefüllt werden!“ und zwar sind da die Kreuze an die Stelle gerückt, wo hin sie die NSDAP wünscht.

Die Frage, ob das Vorschrift sei, wird bestätigt.“

15. November 1933

„Eine unter dem 11.11. einberufene Zusammenkunft von Unternehmern und Betriebsführungen zum Zwecke der Fortsetzung eines Stammtischähnlichen … Zusammentreffens ist im Ganzen von 3 Leuten befolgt worden.

Als bekannt gewordener Grund des Ausbleibens anderer Eingeladener: es sei gesetzwidrig, zu einem Zusammenkommen einzuladen, und der betreffende Empfänger dieser Einladung beabsichtige, auf’s Gemeindeamt zu gehen und den Einberufer anzuzeigen, der gehöre in’s Konzentrationslager.“

16. November 1933

„Das 9-jährige Sternkopf-Kind muss einen Aufsatz machen über die Wahl nach Stichworten. Der Vater hilft mit und schlägt vor, den Satz mit hinein zu bringen: „Mein Vater sagt, Kinder sollen sich nicht mit Politik abgeben.“

Der Lehrer sieht den Satz im Konzept, der übriges nicht ausgesprochener Nazi ist, und sagt: „Eigentlich hat der Vater recht, aber den Satz schreiben wir nicht.“

17. November 1933

„An ein und demselben Tag kommen zwei Reisende, beide Herren im gereiften Alter, mit angegrauten Köpfen. Sie werden in der schon seit Jahren geübten Art nebenbei gefragt, wie es in ihrer Branche gehe. Während aber sonst üblich war, daß nun die Leute ihre Meinung so sagten, wie es ihre normale Sprechweise vorschrieb, kommen sie auf den Frager zu, stellen sich dicht zum Frager und flüstern, damit das in dem durch einen Vorhang getrennten Nebenraum beschäftigte Personal nicht hören soll, was sie sagen. FREIHEIT !“


13. Juli 1937

Denn es gab ja auch seit 300 Jahren in Deutschland keine Inquisition, kein Gesinnungsspitzeltum und kein Bruderverrätertum und keine derartige Unterdrückung der Denk- und Redefreiheit, wie jetzt.“


11. Januar 1939

Sondergerichtsverhandlung, Landgericht Freiberg

Auszug Anklageschrift:

„Unter diesen Umständen bildet der Beschuldigte bei seiner zweifellos vorhandnen überdurchschnittlichen geistigen Regsamkeit für seine Umwelt, namentlich in Rittersgrün, wo er eine erhebliche Rolle zu spielen scheint, eine Gefahr im Sinne einer dem Nationalsozialismus gegnerischen Propaganda.“


Schaut man aus heutiger Perspektive auf dieses kleine Stimmungsbild aus den 30er Jahren, so finden sich doch erstaunliche Parallelen zur Gegenwart mit einer erneut aufkeimenden Gesinnungsdiktatur und Beschneidung der Meinungsfreiheit.




















Die herunter gewirtschaftete Sternkopf Schneidmühle 

in Rittersgrün am Ende des DDR-Sozialismus...



































































Der gleiche kommunistische Oberlehrer, welcher Jonathan Sternkopf 1962 als „Kriegsverbrecher und aktiven Faschisten“ einordnet, um damit die Enteignung seines Betriebes zu rechtfertigen, hat 1983, nunmehr als Direktor des Gymnasiums gegenüber der Staatssicherheit die strenge Bestrafung des Verfassers (und Schülers) gefordert, weil ich es gewagt hatte, „Republikflucht“ zu begehen.